Der Suitengedanke als Vorlage für einen Liederabend


In Zeiten geringer Fremdsprachenkenntnisse beim einfachen Volk, langsamer Postkutschen und nicht zuletzt der Verarbeitung der Folgen des Dreißigjährigen Krieges sind Internationalismen nicht das, was man erwarten möchte; diesen Tatsachen zum Trotz enstand in der Barockzeit mit der Suite eine musikalische Form, die die Eigenheiten verschiedener Kulturen verarbeitete. Die unterschiedlichen Stilmittel wurden nicht vermischt, sondern einzeln verwendet, um jeden Satz einem anderen Land zu widmen: Multi-Kulti statt Ethno-Fusion. (Manche tradierten Tanzformen wurden falschen Ländern zugeordnet, manche bis zur Unkenntlichkeit entstellt oder sogar neu erfunden, aber das hinderte die Menschen der betreffenden Länder nicht daran, an der neuen europäischen Mode ihre helle Freude zu haben.) Lange vor der Osterweiterung der EU war es schon unmöglich, alle Länder zu berücksichtigen - die ständigen Mitglieder der Suitengemeinschaft Deutschland, Frankreich, Spanien, Italien und England konnten nach Gusto ergänzt oder auch einmal ersetzt werden. Eine singbare Adaption des Suitengedankens muß sich statt mit Tanzformen mit verschiedenen Sprachen und Sprachstämmen beschäftigen und kann dabei auch nur eine Auswahl treffen: Neben den (durch die größte Anzahl an Sprechern) wichtigsten Sprachfamilien Romanisch, Germanisch und Slawisch haben wir uns für Baskisch, die älteste lebendige Sprache Europas (wenn es denn eine europäische Sprache ist - Euskara, so der baskische Name, ist so alt, daß man es nicht genau weiß) und mit dem finnisch-ugrischen Sprachstamm für eine Sprachfamilie, die ursprünglich vom europäischen Randgebiet stammt, entschieden. (Wenn die Sprache Ihres bevorzugten Urlaubslandes heute keine Rolle spielt, seien Sie bitte nicht traurig: die kennen Sie ohnehin schon.) Ob die ausgewählten Lieder für die entsprechenden Länder charakteristisch sind, entzieht sich unserer Kenntnis, wir haben allerdings auf Authentizität geachtet: eine portugiesische Polka hatte also keine Chance, ins Programm aufgenommen zu werden, welche anderen Qualitäten sie auch immer haben mag. Trotz der unterschiedlichen Sprachen, Herkunftsländer und Entstehungsdaten vertragen sich die einzelnen Lieder erstaunlich gut miteinander, und das mag als Erklärungsversuch dienen, wieso die Suite ausgerechnet als musikalische Kunstform entstand: Musik ermöglicht eine zeit- und länderübergreifende universelle Verständigung, wogegen konkrete Kommunikation prinzipbedingt nicht möglich ist. Deswegen haben wir uns erlaubt, in den unbegleiteten Gesangsstücken ein Tabu zu brechen und bieten gesungene Musik ganz ohne Text dar. Die scheinbar zwingende Verbindung zwischen Gesang und aussagekräftigem Text ist übrigens noch gar nicht so alt; die älteste erhaltene europäische Kunstmusik verwendet als Silben einige wenige (kirchenlateinische) Floskeln, die in für moderne Hörer kaum glaubliche Länge gezogen und dadurch unkenntlich werden. Über die Anfänge von Sprache wissen wir wenig (weil es noch keine Möglichkeit gab, davon zu berichten), ebensowenig über die Anfänge der Dichtkunst; durch das Hören eines Liedes in einer unbekannten Sprache wird man darauf aufmerksam, daß Sprache immer auch eine lautmalerische Wirkung und allein durch ihren Klang einen Charakter hat - wir möchten darauf spekulieren, daß frühe gesungene Musik diese Wirkung bewußt einsetzte. Die selbstverfassten Lieder im etwas engeren Sinne tragen diesem erfundenen Archaismus Rechnung, ihre Texte stehen in einer Phantasiesprache, bei der die einzelnen Silben nicht aus syntaktischen, sondern klanglichen Gründen aneinandergefügt sind. Im Sinne des Suitengedankens sollen die verschiedensprachigen Texte des Programms also keine Verständlichkeitsbarrieren aufbauen, sondern die unterschiedlichen Charaktere der Musikstücke herausstellen, um sie einem intuitiven emotionalen Verständnis zu erschließen.
Karin Maria Pagel, Malte Pagel

Dieser Text entstammt dem Programmheft eines Konzerts von Karin Maria und Malte Pagel. Zur Webseite der Autoren

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